Ein bisschen von mir an Dich, über den Blues und mich

Ich sitze schweigend vor meinem Steinway-Konzertflügel, wie alle Tage. Meine Seele sprudelt und offenbart mir alle Möglichkeiten. Flink gleiten meine Finger, wie von Ferne gelenkt, über die Tasten. Meine Beine zappeln und die Füsse klatschen den Takt. Gedanken durchstreifen mein Spiel und ich sinniere:
Was wäre, wenn ich einen der Berufe gewählt hätte, die ich mir als Bub so sehr wünschte: Quantenphysiker oder Bauer? Oder was wäre geworden, wenn ich eines meiner sportlichen Talente zum Beruf gemacht hätte?

Möglichkeiten waren genügend vorhanden in den Disziplinen, in denen ich so manchen nationalen Sieg errungen hatte: Schwimmen, Speerwerfen, Weitsprung oder Karate. Nein, ich bin meiner Berufung gefolgt und Pianist geworden. Hätte mir eine andere Ausrichtung auch so lange die ungebrochene Treue gehalten wie der Blues? Damals wusste ich die Antwort noch nicht. Was mich wirklich angetrieben hatte, Künstler zu bleiben, weiss ich erst heute…

Seit vielen Jahren spiegle ich in meinem Klavier- und Bluesharpspiel meine momentane Verfassung wider. Ohne jegliche Anstrengung sprudelt es aus mir heraus, und meine Emotionen werden hautnah pianistisch umgesetzt, frisch, oft auch für mich selber neu. Manchmal Boogie-Woogie, meistens Blues oder auch etwas dazwischen. Der Anspruch an die Authentizität ist mir wichtig.

Ich strebe nicht danach, all die begnadeten Pianisten, die in meiner bevorzugten Musikrichtung in den 1920 bis 40iger Jahren wegweisend waren, kopieren zu wollen. Mein Respekt gegenüber deren Kompositionen war und ist allerdings nach wie vor ungebrochen. Musizieren ist für mich eine reine Gefühlssache. Jeder Künstler empfindet die Aussage einer Komposition anders, also soll meiner Meinung nach sein Spiel möglichst eigen klingen. Eben authentisch.

Manchmal stehe ich meinem Mut stets eigenes zu schaffen allerdings auch etwas skeptisch gegenüber. Vielleicht resultierte aber auch gerade daraus, dass das Neue, Spontane und Nicht-Routinierte in meinem Leben für meine Erfolge mitverantwortlich sind.
Nein, ich hatte nie Klavierstunden, wieso auch? Meine Musik existierte nicht auf Notenblättern. Es ist deshalb für mich ein erhebendes Gefühl, ohne aufgezwungene Fingersätze alles, was ich fühle, spontan in eigene Klangfolgen umzusetzen.

Soweit so gut – aber will ich nun eben genau dieses rare Gefühl auch jederzeit der Öffentlichkeit oder dem Ticketkäufer preisgeben? Als Mensch mit Ambitionen beabsichtige ich natürlich, das Publikum zufriedenzustellen, und ein möglichst positives Feedback zu erhalten. Der Konzertbesucher hat ja die Legitimität und den Anspruch, alles aus dem Künstler herauszuholen, und er will auch alles.

Die einen Konzertbesucher zeigen dies während dem Konzert mit aufmunterndem Gejohle und übermütigen Zwischenrufen. Sie brauchen nur wenige Effekte, um alles um sie herum zu vergessen, und vom Zauber der Musik gebannt zu werden. „Let’s fetz“!

Andere Gäste verhalten sich wieder ganz anders. Sie sitzen mit verschränkten Armen da, kennen weder das Hol- noch Bringprinzip und erwarten nicht einmal, aus ihrem momentanen, undefinierten Gefühlschaos entführt zu werden. Sie sitzen einfach nur da und lauschen der Faszination des Boogie-Woogie und Blues, ohne Wippen, Stampfen, aber mit einem zufriedenen Schmunzeln im Gesicht.

An Konzerten ist für mich die Entscheidung gefragt: „Soll ich oder soll ich nicht“? Soll ich nun volles Risiko gehen, alles was in mir steckt in einen ersten Boogie-Woogie investieren und versuchen, auch den „Allerletzten-Armverschrenker“ vom Sockel zu hauen? Oder soll ich die Vorstellung gemächlich, mit Strategie angehen, den Abend aufbauen bis zum Gigantismus, und manipulieren mit speziellen Licht-, Sound- und haufenweisen Spezial-Effekten wie Nebel, Feuerimpulsen und Videoeinblendungen?

All das hatte ich ausprobiert – es ist nicht nötig! Ich kenne nur noch das Eine: Beim Betreten der Bühne sauge ich die jeweilige Atmosphäre ein, denn jeder Konzertsaal hat seinen ganz typischen Geruch, seine spezielle Akustik und seinen damit verbundenen Wert an „Wohlfühl-Charakter“. Ich nähere mich dem Konzert-Flügel, der Scheinwerfer hat mich bereits erfasst und in jenem Moment weiss ich ganz genau, mit welchem Tempo und welchem Groove ich das Konzert starten werde. Gescheitert bin ich mit dieser Art nie. Vom Sport her weiss ich, dass nur der Sieg zählt. Ob Sport oder Musik, die Konsumenten fordern: „Gib Gas, gewinne, gib alles, geh über deine Grenzen und ich finde dich «En-Geile-Siech», denn ich will nur eines, mich total amüsieren“.  -CHE-